Die Poetik ist Dichtkunst im weitesten Sinne. Analog zur Rhetorik ist sie zu verstehen als praktische Fähigkeit, Theorie, Schulungsfach und als Wissenschaft. Eine Begriffsbestimmung.
Sowohl bei der Poetik als auch der Rhetorik handelt es sich um eine téchnē. Das heißt, sie sind beide Fähigkeiten oder Kunstfertigkeiten. Und obwohl sie sich beide auf sprachliche Dinge beziehen, haben sie unterschiedliche Gegenstände: Im medialen Kontext der Antike ist es bei der Poetik die Dichtung und bei der Rhetorik die Rede.
Die altgriechischen Begriffe für beide sind (man möge mir den Snobismus nachsehen):
- altgriechisch ποιητική τέχνη (poietikḗ téchnē) ist zu Deutsch die Dichtkunst
- altgriechisch ῥητορική τέχνη (rhētorikḗ téchnē) ist die Redekunst
Das Verhältnis und die Abgrenzung der beiden ist Gegenstand jahrtausendelanger Diskussion und lässt sich hier nicht abbilden. Warum es so schwierig zu greifen ist, erkennt man daran, dass beide sprachlichen Praktiken mindestens zum Teil auf dieselben sprachlichen Mittel zurückgreifen müssen. Teil welcher Fähigkeit sind diese Mittel also? Poetik und Rhetorik sind miteinander verbunden.
Was ist der Gegenstand von Poetik?
Aristoteles löst dieses Problem für sich, indem er den Gegenstand der Dichtkunst auf der Inhaltsebene beschreibt:
Die Epik und die tragische Dichtung, derner die Komödie und die Dithyrambendichtung […]: sie alle sind, als Ganzes betrachtet, Nachahmungen. […] Die Nachahmenden ahmen handelnde Menschen nach.
Aristoteles: Poetik, 1 und 2 [1447a und 1448a] übers. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam, 1982
Bezogen auf unsere Bedürfnisse an eine Antwort auf die Frage danach, womit sich die Poetik beschäftigt, bedeutet dies: Die Poetik befasst sich mit Texten, in welchen Handlungen und Charaktere durch Erzählung oder Darstellung nachgeahmt werden. Ob diese Texte dafür gedacht sind (vor-)gelesen oder durch Schauspieler:innen für Bühne oder Film inszeniert zu werden, ist irrelevant. Gleiches gilt für die Frage danach, ob diese Handlungen und Charaktere ernst oder lustig etc. sind.
Texte beziehungsweise Textstellen, in denen berichtet, erklärt oder argumentiert wird, sind also nicht Gegenstand der Poetik, sondern der Rhetorik. Auch die Rhetorik befasst sich aber mit dem Problem des Nachahmens von Handlungen und Charakteren. Sie kann daher viel zum Gegenstandsbereich der Dichtkunst beisteuern.
Fiktionalität und Faktizität
Auch die Frage, ob das in Texten Nachgeahmte wirklich (faktisch) oder erdacht (fiktional) ist, spielt keine Rolle dabei, ob es Gegenstand der Poetik ist. Weil die Rhetorik sich aber – zumindest, wenn nicht gelogen oder in Beispielen gesprochen wird – auf die wirkliche Welt beschränken muss, ist das Fiktionale ganz der Poetik zuzuordnen:
Die von [der Poetik] untersuchten Erzeugnisse setzen eine zweite, eine ‚fiktive‘ Welt neben die erste, die ‚wirkliche‘; folglich kommt es ihr nicht nur auf die stilistische und argumentative Oberfläche der Dichtwerke an, sondern auch und vor allem auf deren Handlungsstruktur sowie auf deren Verhältnis zur Wirklichkeit.
Manfred Fuhrmann: „Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles, Horaz, ‚Longin'“, Düsseldorf, Zürich: Artemis & Winkler, 2003. S. 7.
Kurz gesagt ist es der ureigene Themenbereich der Poetik, wie man Handlungen und Charaktere erfindet.
Praxis, Theorie, Schulungsfach und Wissenschaft
Verstehen können wir unter dem Begriff Poetik in der Praxis die Fähigkeit zur Dichtkunst. Zu dieser gehört die Theorie: In ihr werden sprachliche und dichterische Mittel mit poetischen Zielen in Verbindung gebracht und Handlungsanweisungen für Schriftsteller:innen formuliert. Das Schulungsfach, in welchem diese Kenntnisse vermittelt werden, heißt zumeist Kreatives Schreiben.
Eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin der Poetik gibt es heute leider nicht. Dafür werden ihre wissenschaftlichen Fragestellungen in verschiedenen Literaturwissenschaften und natürlich in der Rhetorik als Disziplin behandelt.
Zum Weiterlesen empfehlen sich die Definition von Rhetorik.