Angesichts rechter Demonstrationen in Chemnitz zeigt sich dieser Tage wieder, wie sehr der Ton des Journalismus‘ dessen Objektivität beeinträchtigen kann.
Es ist Dienstagmorgen. Der zweite Morgen nach rechten Demonstrationen gegen die mutmaßliche Ermordung eines Deutsch-Kubaners in Chemnitz. Von den Massen gewaltbereiter Rechtsradikalen bin ich entsetzt und, wenn ich die fremdenfeindlichen Äußerungen in den Vox populi höre, welche Journalisten verschiedener Organe in der Stadt eingefangen haben, werde ich wütend. Zugleich ist es mir jedoch wichtig ein möglichst objektives Bild der Demonstrationen zu bekommen, aus deren Mitte es am Sonntag Übergriffe auf Menschen mit Migrationshintergrund gegeben zu haben scheint.
Um mir ein Bild zu machen, habe ich heute früh Artikel aus
- der Süddeutschen Zeitung („‚Das hier ist unsere Stadt'“),
- der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (zunächst „‚Gewaltphantasien von bürgerkriegsähnlichen Zuständen'“ – später geändert),
- der tageszeitung („Gut vernetzte rechtsradikale Szene“),
- der Zeit online („Der Abend an dem der Rechtsstaat aufgab“) und
- dem Spiegel online („Wie die Polizei eine Stadt den Rechten überließ“) gelesen und
- einen Beitrag der Tagesschau („‚Rechter Mob mit Gewaltfantasien'“) angesehen.
Der Konsens der Artikel ist, dass die Zahl der rechten Demonstranten mit ca. 5.000 so groß war, dass die Polizei angesichts ihrer unzureichenden Mannschaftsstärke von 500 Beamten die Oberhand verlor (Quelle).
Aufgrund der Übermacht der rechten Demonstranten konnten diese sich beim Protestzug teils verselbständigen. Es kam zu Stein- und Flaschen- und Feuerwerkskörperwürfen auf Polizisten und Gegendemonstranten sowie scheinbar weitere versuchte Übergriffe auf Menschen mit Migrationshintergrund. Insgesamt gab es sechs Verletzte (Quelle).
Journalismus und Objektivität, Sensation und Überschriften
So weit nun scheint die Informationslage objektivierbar zu sein: Dementsprechend handelt es sich bei den Ereignissen um „Demonstrationen“ bzw. „Aufmärsche“ (z. B. die tageszeitung), in deren Verlauf es zu „Krawalle“ (z. B. Tagesschau) bzw. „Ausschreitungen“ (z. B. Spiegel online) kam.
Damit fallen jedoch die Inhalte der Artikel und die Überschriften deutlich auseinander, denn in diesen Überschriften ‚gibt der Rechtsstaat auf‘ oder die Polizei ‚überlässt Rechten die Stadt‘. Es entsteht der Eindruck eines rechtsfreien Raumes, welcher zum Glück weder durch die Tatsachen noch durch die nachstehenden Artikel gedeckt ist. Zunächst jedoch ist man als Leser noch stärker alarmiert, als nach der weiteren Lektüre.
Wenn eine Sachverhaltsdarstellung dramatischer erfolgt als die darzustellende Sache, liegt Sensationsberichterstattung vor. Ist die Überschrift oder der Vorspann eines solchen Artikels wesentlich dramatischer als sein Inhalt, muss sogar von Click-Baiting, also dem künstlichen Steigern der Zahl der Mausklicks auf den Link zum Volltext, gesprochen werden. Beides sind Stilmittel, welche sich nicht mit seriösem Journalismus vertragen.
Demonstrativ bürgerkriegsähnliche Objektivität
Noch einen Tick schlimmer wird dies in der F.A.Z., welche in ihrer Überschrift gar von „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“ fabuliert, die immerhin als „Phantasien“ bezeichnet und als Zitat gekennzeichnet werden. Woher stammt diese Formulierung? Der SPD-Innenexperte Burkhard Lischka hatte sie gegenüber der Rheinischen Post geäußert. Im Ganzen heißt der Satz:
„Es gibt in unserem Land einen kleinen rechten Mob, der jeden Anlass zum Vorwand nimmt und nehmen wird, seine Gewaltfantasien von bürgerkriegsähnlichen Zuständen auf unsere Straßen zu tragen.“
Zum Glück (ich darf diese Formulierung erfreulicherweise wiederholen) haben wir seit den G20-Protesten in Hamburg im vergangenen Jahr keine bürgerkriegsähnlichen Zustände mehr in Deutschland gesehen. Solche Fantasien wird es leider geben. Aber als Überschrift für die Geschehnisse in Chemnitz taugen sie zum Glück nicht.
Wie besser mit dem Zitat Lischkas umgegangen werden kann, zeigt die Tagesschau: „Rechter Mob mit Gewaltfantasien“ schneidet sie als Überschrift aus der Politikeraussage heraus. Auch bei der Zitatauswahl ist es wichtig, nicht einen völlig falschen Eindruck von der Sachlage zu erwecken – und womöglich noch die Aussage zu verfälschen.
Journalistische Objektivität duldet keinen inneren Widerspruch
Zum Schluss möchte ich noch darauf verweisen, wie Johannes Grünert in Der Zeit im bereits erwähnten Artikel „Der Abend, an dem der Rechtsstaat aufgab“ sich vom in seiner Überschrift evozierten Bild so sehr leiten lässt, dass er es auch innerhalb des Artikels wieder hervorruft, obwohl er es nicht mit Beweisen untermauern kann.
Im Vorspann des Artikels wird folgende These formuliert, welche nach den Gliederungsanforderungen journalistischer Texte im nachfolgenden Text zu beweisen ist: „Die Polizei ist unterlegen und lässt sie [= die Rechten] gewähren.“
Erst im letzten Drittel des Textes kommt Grünert auf die Ausschreitungen zu sprechen: Namentlich schildert er den drohenden Zusammenstoß von Demonstranten und Gegendemonstranten, welcher laut anderen Presseorganen schnell von der Polizei in den Griff gebracht wurde, ohne dieses Einreiten der Sicherheitskräfte zu erwähnen:
Dann weicht die lange Polizeikette zurück, eine große Gruppe Rechtsradikaler drängt zu den Gegendemonstranten. Flaschen und Feuerwerkskörper fliegen auf Gegendemonstranten, die nun, wenige Meter entfernt, teils panisch über Geländer klettern, um sich in Sicherheit zu bringen. Augenzeugen zufolge wird der Angriff mit Wurfgeschossen beantwortet. Unvermittelt setzt sich der rechte Aufzug in Bewegung. Die Stimmung ist aufgeheizt. Immer wieder fliegen Flaschen, einige Demonstrierende rangeln mit der Polizei. Eine Gruppe Fotojournalisten kann gerade noch vor einem Angriff Vermummter flüchten.
Genau an dieser Stelle kommt er dann zu seiner titelgebenden Sentenz: „Es ist der Abend, an dem der Rechtsstaat aufgibt.“
Die Sorgfaltspflicht erfordert auch zutreffende Analysen
Stützen kann er diese Interpretation jedoch nicht. Im Gegenteil: Laut seiner weiteren Schilderung „verläuft der Marsch zunächst friedlich weiter.“ Dieser sei sogar vorne und hinter von der Polizei geleitet. Lediglich:
[d]azwischen können die Neonazis über Hunderte Meter tun und lassen, was sie wollen. Die Polizei ist nur noch als Greiftrupp in besonders brenzligen Situationen wahrnehmbar […].
Nachdem der Autor eine weitere erfolgreiche deeskalierende Maßnahme der Sicherheitskräfte geschildert hat, kommt er zu folgendem Fazit und widerspricht seiner eingehenden These damit eindeutig:
Als die Vermummten im Schutze der Dunkelheit wieder verschwinden, gefolgt vom Stoßtrupp der Polizei, wird klar: Ein wenig Respekt haben sie vor der Staatsmacht, direkte Konfrontation mit den Einsatzkräften suchen sie nur selten. Bislang.
Während der Text also darlegt, wie die Polizei die Situation in Chemnitz am gestrigen Abend trotz ihrer zu geringen Mannschaftsstärke noch einigermaßen befrieden konnte und eine völlige Eskalation verhindern konnte, schlussfolgert er das Gegenteil. Auch hier liegt also eine sensationsorientierte Berichterstattung und mehr noch eine sensationsheischerische Überschrift vor, die zu allem Übel noch mit einem Unkenruf endet.
Trennung von Objektivität und Meinung
Ausgerechnet die taz., welche sich sonst nicht immer an diesen Grundsatz hält, kann heute die deutliche Trennung von der objektiv informierenden nachrichtlichen Darstellungsform Bericht und der meinungsbetonten Darstellungsform Kommentar leisten.
Da stehen auf der einen Seite die objektiven Berichte „Schon wieder Sachsen“ und „Gut vernetzte rechtsradikale Szene“ sowie das Interview „Es gibt einige rechte Hotspots„. Ihnen gegenüber finden sich die meinungsbetonten Kommentare „Katastrophengebiet der Demokratie“ und „Probe für den rechten Volksaufstand„.
Auch hier finden wir also ein Unkenruf – aber eben in einem Kommentar. Und da ist er ja auch im Qualitätsjournalismus erlaubt.
Gerade in solche schwierigen Zeiten haben wir den Qualitätsjournalismus sehr nötig. Gerade jetzt, da wir mehr denn je in der Lage sein müssen, objektiv einzuschätzen, was in unserem Land passiert, müssen wir als Bürger von den Journalisten erwarten, dass sie ihre eigene Wut, ihr eigenes Entsetzen und ihre eigene Angst aus den Berichten heraus halten und sich darauf beschränkten objektiv zu sein.
An dieser Stelle möchte ich mal einen Schlussstrich unter diesen Artikel ziehen. Und darunter muss leider stehen, dass es mir trotz der Vielzahl gelesener Artikel aus so vielen Quellen letztlich nicht gelungen ist, zu ermitteln, ob und wie sehr die Staatsmacht gestern in Chemnitz ihre Macht zugunsten der rechtsradikalen Demonstranten aufgegeben hat.
Verwendetes Bild: © 2009 Tobias Nordhausen unter CC BY 2.0.