Die Rhetorik stellt ein breites Angebot kommunikativer Mittel bereit. Sie alle unterliegen jedoch einer zentralen Anforderung: ihrer Angemessenheit an die Bedingungen.
Dass man beim Kommunizieren ins Fettnäpfchen treten kann, haben alle schon erlebt. So etwas kann auf zwei Arten geschehen: indem man ein Tabu bricht, oder indem man sich sprachlich vergreift und etwas Falsches oder auf die falsche Weise sagt. Beides sind rhetorische Fehler.
Meinen Schüler:innen habe ich das immer anhand eines Beispieles zu erklären versucht. Angenommen habe ich, eine:r von ihnen wolle die Mutter um mehr Taschengeld bitten. Eine solche Gesprächssituation ist leicht vorstellbar. Und es fallen einem ebenso leicht Herangehensweisen dazu ein. Eines wird man jedenfalls nicht tun: Sich mit offener Hand vor die Mutter stellen und sagen:
Alte, Geld her!
Wir müssen also über Angemessenheit reden. Gehen wir dazu von der Definition der Rhetorik aus: Diese erfolgte aufgrund ihres Bezuges auf die strategisch erfolgsorientierte Kommunikation. Der rhetorische Fall tritt ein, wann immer ein Ziel mit kommunikativen Mitteln erreicht werden soll.
Es versteht sich von selbst, dass der strategische Einsatz kommunikativer Mittel entsprechenden Bedingungen unterworfen sein muss. Anders gesagt muss jedes kommunikative Mittel sich am rhetorischen Ziel messen lassen. Angemessenheit ist also gefragt.
Arten der Angemessenheit
Als Fachbegriff für Angemessenheit wird der lateinisch Begriff aptum beziehungsweise seltener das griechische prepon verwandt. (Prepon war eine Bezeichnung unter der ich zwei Jahrzehnte lang firmierte, bis ich das aufgeben musste.) Die Rhetoriktheorie unterscheidet zwei Arten von Angemessenheit, nämlich das innere und das äußere aptum. Diesen beiden werden alle kommunikativen Bedingungen zugeordnet.
Das äußere aptum, die äußere Angemessenheit, betrifft Folgendes:
- Was ist der äußere Anlass der Kommunikation bzw. die Gelegenheit, zu der sie stattfindet?
- Wer sind die Adressaten?
- Welche Haltung haben die Adressaten gegenüber dem rhetorischen Ziel und der- oder demjenigen, di:er es verfolgt? Müssen sie umgestimmt oder sollen sie in ihrer Meinung bestärkt werden? Die Rhetorik spricht hier von Wechselerzeugung (metabolie) und Bindungserzeugung (systase).
- Welche Vorkenntnisse, Informationsbedürfnisse und Erwartungen haben die Adressaten?
- Welche Eigenschaften haben sie bezüglich Charakter, Wertehaltung, Alter, Bildungsstand, sozialer Stellung etc.?
- In welcher Beziehung stehen die Adressaten zu der- oder demjenigen, di:er spricht?
- Wie sind die situativen Bedingungen der Kommunikation? Können diese beeinflusst werden?
- Zu welchem Zeitpunkt und in welchem Zeitraum findet die Kommunikation statt? Gibt es hier beispielsweise besondere Einschränkungen oder Vorbedingungen?
- An welchem Ort findet die Kommunikation statt? Gelten für diesen Ort besondere kommunikative Bedingungen oder Verhaltensregeln?
- Unter welchen medialen Bedingungen findet die Kommunikation statt? Welche äußeren Beinträchtigungen gibt es ggf. audiovisuell oder technisch?
Das innere aptum, also die innere Angemessenheit betrifft
- Welches Ziel soll kommunikativ erreicht werden? Gefragt wird auch, was Gegenstand oder Thema der Kommunikation ist.
- Wer verfolgt das rhetorische Ziel? Wer spricht? Oder – um einen Fachbegriff zu verwenden – wer ist der Orator?
- In welchem Ruf steht die- oder derjenige, di:er spricht, bzw. die Person, für die gesprochen wird?
- Welche Eigenschaften hat die- oder derjenige bezüglich Charakter, Wertehaltung, Alter, Bildungsstand, sozialer Stellung etc.?
All diesen Bedingungen muss eine Kommunikationsstrategie und ihr Mitteleinsatz also gerecht werden. Es sind Fragestellungen, die zum Teil schon direkt in die ersten Schritte des rhetorischen Arbeitsablaufes hineinführen – nämlich in die Überlegung (intellectio) und Findung (inventio).
Zurück zum Taschengeld. Ein Beispiel
Zugegeben: Für unser Taschengeldbeispiel klingen diese vielen Bezugspunkte für eine angemessene Kommunikation fast ein wenig hochtrabend. Trotzdem sind sie absolut genauso wichtig wie in jedem anderen rhetorischen Fall, wie ich im Folgenden skizzieren möchte. Das Beispiel nimmt den gesamten Rest des Artikels ein und illustriert das oben dargelegte Modell.
Beginnen wir mit der inneren Angemessenheit.
Das kommunikative Ziel steht fest: Es soll mehr Taschengeld erbeten werden. Die Adressaten sollen diesem Wunsch stattgeben und müssen davon überzeugt werden. Der Gegenstand könnte hier zusätzlich von Interesse sein. Es macht einen Unterschied, ob dieses Geld dauerhaft oder einmalig oder zu einem bestimmten Zweck erbeten wird. Diese Ziele können unterschiedlich schwierig zu erreichen sein. Deshalb müssen gegebenenfalls mehr Argumente gesammelt und vorgetragen werden.
Der nächste Punkt betrifft die Person der- oder desjenigen, di:er spricht bzw. für den oder die gesprochen wird. Vergleiche die Situationen, ob man für sich selbst oder für die kleine Schwester oder für beide um Taschengeld bittet. Hat oder haben diese Personen sich in letzter Zeit Lob verdient? Dann sind vielleicht nicht viele Argumente notwendig, oder es muss nur auf diese Tatsache verwiesen werden. Im gegenteiligen Fall sind mehr Argumente und gegebenenfalls auch Versprechen nötig, um zu überzeugen.
Der letzte Punkt sind die Eigenschaften der oder des Sprechenden: Welche Ausdrucksweise und welche Argumente stehen der Person zu Gesicht? Was führt dazu, dass sie erstgenommen wird und sich nicht lächerlich macht? Da wir hier von Taschengeldempfänger:innen reden, ist diese Frage einfacher zu beantworten als, wenn der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj um schwere Waffen bittet.
Die äußere Angemessenheit betrifft alles Weitere
Kommen wir auf das äußere aptum zu sprechen.
Der äußere Anlass, zu welchem die Überzeugung stattfinden soll, spielt in verschiedenerlei Hinsicht eine Rolle: Taschengeld für ein Eis ist im Urlaub oder am Rande einer Familienfeier vielleicht widerstandsloser zu bekommen als mittwochs vor der Schule. Für eine dauerhafte Erhöhung des Taschengeldes gilt beinahe das Gegenteil. Daran sieht man auch, dass selbst die Entscheidung darüber, wann das Thema angeschnitten wird, Teil des rhetorischen Kalküls und damit eine Frage der Angemessenheit ist.
Dann kommen wir auf die Adressaten zu sprechen: Sind es beide Eltern oder nur ein Elternteil? Welche Haltung zum rhetorischen Ziel erwartet man bei ihnen? Je schlechter die Ausgangsvoraussetzungen sind, desto sorgfältiger muss argumentiert werden, um zu überzeugen. Ganz anders vielleicht, wenn das Thema Taschengelderhöhung sowieso schon im Raum stand.
Auf Vorkenntnisse darf gebaut werden. Informationsbedürfnisse dagegen müssen erfüllt werden. Beispielsweise muss vielleicht gerechtfertigt werden, wie viel Geld auf Klassenfahrt zur freien Verfügung erforderlich ist. Auch die Erwartungen sind wichtig. Sie fallen hier jedoch anders aus, als etwa beim Grußwort zu Omas Geburtstag, wo man unterhaltsam sein soll. Hier dagegen gilt: Erwarten die Eltern beispielsweise überhaupt keine oder besonders viele Argumente?
Bei den nächsten beiden Aspekten – den Eigenschaften der Adressaten und der Beziehung zu ihnen – wird wieder eine deutliche Diskrepanz zwischen unserem familiären Beispiel und andererseits dem Fall des urkrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj offensichtlich.
Idealerweise liegt zu den Eltern eine gute Beziehung vor, und diese sind im Rahmen ihrer Möglichkeiten generell hilfsbereit. Ein Teenager wird sich dennoch in aller Regel sprachlich daran anpassen, dass die Adressaten Erwachsene sind und eine entsprechende Ausdrucksweise erwarten. Das „Alte“ in meinem Beispiel vom Anfang wird wohl inadäquat sein.
Angemessenheit an die Situation
Die situativen Bedingungen, unter denen man versucht, ein Ziel kommunikativ zu erreichen, sind ebenfalls sehr wichtig. Idealerweise hat die Person, die um Taschengeld bitten möchte, hierbei die freie Auswahl. Man wird nach einer Situation streben, zu welcher die Adressaten einem die ungeteilte Aufmerksamkeit widmen können und möchten. Außerdem sollte die zur Verfügung stehende Zeit nicht zu knapp sein. Manchmal hat man hier allerdings gar keinen Einfluss: Denken wir an den berühmten Elevator Pitch, bei dem nur eine Aufzugfahrt zum Überzeugen zur Verfügung steht.
Dasselbe gilt für den Ort der Kommunikation. Zu bedenken ist hier, dass in bestimmten Settings – wie einer Kirche, dem Wartezimmer einer Praxis oder einem Aufzug – spezielle kommunikative Regeln zu beachten sind.
Bleibt schließlich noch die Frage der Medienrhetorik: Wird von Angesicht zu Angesicht gesprochen oder über das Telefon? Wird eventuell gar nicht gesprochen, sondern kann nur geschrieben werden? (Ich habe eine wunderbare Postkarte, mit welcher meine Tante meinen Großvater aus dem Medizinstudium heraus um Geld bat.)
Auch potentielle Störungen wie Umgebungslärm oder eine schlechte Handyverbindung etc. spielen eine Rolle. Möchte man beispielsweise bei Bierzeltlärm auf dem Cannstatter Wasen oder dem Oktoberfest um Geld für die Achterbahn bitten, ist es angemessen, sich möglichst kurzzufassen.
So weit zum Beispiel, mit dem ich hoffe, meine Erläuterungen zur Angemessenheit praxisnah veranschaulicht zu haben. Natürlich wird man sich viele dieser Fragen nicht bewusst stellen, bzw. sie schon unbewusst richtig lösen. Ob diese Lösung angemessen ausfällt oder nicht, ist jedoch immer wichtig, wo strategisch erfolgsorientiert kommuniziert wird.